Plenarvortrag 2

„Ja, aber ist das eine Aufgabe des Deutschunterrichts?“*
Antisemitismuskritische Bildung im Deutschunterricht und in der Deutschdidaktik

Anja Ballis (LMU München)

Dienstag 17.9.24

Nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 ist deutlich geworden, dass Antisemitismus und andere Formen von Diskriminierung ein gesellschaftliches Problem in Deutschland darstellen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas wirken sich auf die Situation in Deutschland aus. Jüngere Studien weisen darauf hin, dass Antisemitismus nachweisbar in der „politischen Mitte“ angekommen ist (Zick et al. 2023). Berichte über und Reaktionen auf diese Entwicklungen machen vor (Hoch)Schultüren nicht halt: Lehrende und Lernende entlang der Bildungskette – von der Kita bis zur Hochschule – werden durch Hass, der gegen Jüdinnen und Juden gerichtet ist (IHRA 2016), verunsichert, herausgefordert und bedroht (Bernstein/Diddens 2021; Rüb 2023; Finke 2024). Auch erleben wir, wie in Bildungsinstitutionen demokratisch verbürgte Meinungsfreiheit durch Holocaust-Leugnung und Verzerrung zuweilen auf die Probe gestellt wird (Wielens et al. 2019).

Angesichts der Wucht aktueller Ereignisse und Bedrohungen sowie der langanhaltenden Wirkung von Text-Welt-Modellen, die den Antisemitismus fortschreiben und verfestigen (Schwarz-Friesel 2022), scheint es naiv zu fragen, ob bzw. was der Deutschunterricht in dieser Situation beitragen kann. Betrachtet man die Entwicklungsgeschichte des Faches Deutsch an Schule und Hochschule, so kommen antisemitische Texte auch in der Tradition des Deutschunterrichts vor (Frank 1973; Dawidowski 2016). Nehmen wir an Schule und Hochschule die Herausforderung an, Antisemitismus zum Thema zu machen, so werden vielfältige (über)fachliche Bereiche berührt, die sich auf die Inhalte des Faches Deutsch an Schulen und auf Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften ebenso auswirken wie auf das Selbstverständnis von fachdidaktisch Forschenden.

Solche Veränderungen werde ich in meinem Vortrag konturieren, sie historisch rückbeziehen, mit Ergebnissen empirischer Studien aktualisieren sowie mit eigenen Erfahrungen anreichern, um zu einen Entwurf „Antisemitismuskritischer Bildung im Deutschunterricht und in der Deutschdidaktik“ zu gelangen. Mein Wunsch ist es damit, zum Nachdenken über Fach(lichkeit) (Bayrhuber et al. 2018; Rothgangel et al. 2020) in politisch unruhigen Zeiten anzuregen.

* Die Frage stammt aus einer Gruppendiskussion mit Lehrkräften zu „Antisemitismus & Deutschunterricht“ (BMBF-Projekt DiSo-SGW unter Leitung von J. Brüggemann und V. Frederking, https://www.uni-bamberg.de/germ-didaktik/forschung/forschungsprojekte/disosgw/).

Literatur:

Bayrhuber, H., Frederking, V., Abraham, U., Jank, W., Rothgangel, M. & Vollmer, H. J. (2018). Fachlichkeit im Horizont der Allgemeinen Fachdidaktik. In M. Martens, K. Rabenstein, K. Bräu, M. Fetzer, H. Gresch, I. Hardy & C. Schelle (Hrsg.), Konstruktionen von Fachlichkeit – Ansätze, Erträge und Diskussionen in der empirischen Unterrichtsforschung, 42–54. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Bernstein, J. & Diddens, F. (2021). Antisemitismus an Schulen. Empirische Befunde. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 73(2), 151-165. https://doi.org/10.1515/zpt-2021-0019

Dawidowski, C. (2016). Literaturdidaktik. Eine Einführung. Paderborn: Schöningh.

Finke, K. (2024). Umgang deutscher Hochschulen mit Antisemitismus. Forschung und Lehre 08.02.2024 (https://www.forschung-und-lehre.de/management/umgang-der-deutschen-hochschulen-mit-antisemitismus-6225)

Frank, H. J. (1973). Geschichte des Deutschunterrichts: von den Anfängen bis 1945. München: Hanser.

IHRA (2016). Arbeitsdefinition von Antisemitismus. https://holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus#:~:text=Am%2026.,Jüdinnen%20und%20Juden%20ausdrücken%20kann.

Rothgangel, M., Abraham, U., Bayrhuber, H., Frederking, V., Jank, W., & Vollmer, H. J. (Hrsg.). (2020). Lernen im Fach und über das Fach hinaus: Bestandsaufnahmen und Forschungsperspektiven aus 17 Fachdidaktiken im Vergleich. Allgemeine Fachdidaktik, Band 2 (Vol. 13). Waxmann Verlag.

Rüb, P. (2023). Der Umgang mit Antisemitismus im Unterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Schwarz-Friesel, N. (2022). Toxische Sprache und geistige Gewalt. Wie judenfeindliche Denkstrukturen und Gefühlsmuster seit Jahrhunderten unsere Kommunikation prägen. Tübingen: Narr.

Wielens, A., Klieme, M.-L., & Inowlocki, L. (2019). Diskursmodernisierungen durch die Identitäre Bewegung und die Junge Alternative im Verhältnis zu früheren Gruppen der extremen Rechten. In Kranebitter, A., &

Reinprecht, C. (Hrsg.). Die Soziologie und der Nationalsozialismus in Österreich, 511–534. Bielefeld: transcript.

Zick, A., Küpper, B., & Mokros, N. (2023). Die distanzierte Mitte: Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23. Bonn: J.H.W. Dietz Nachf.

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