Normativität und Relativität in Deutschdidaktik und -unterricht
Moderator:innen: Carolin Führer (Universität Tübingen); Marzusch Philipp (Eberhard Karls Universität Tübingen); Dominik Balg (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz)
Das Spannungsfeld von Normativität und Relativität ist der Fachdidaktik Deutsch als Disziplin genuin eingeschrieben, insofern sie einerseits über Wirkmacht hinsichtlich der „Bestimmung von Aufgaben und Zielen des Deutschunterrichts“ (Funda et al. 2020) verfügt, andererseits die Überprüfung und Relativierung dieser eine zentrale Aufgabe bleibt.
Normativität ist zunächst ein grundlegender Bestandteil der fachlichen Gegenstandskonstitution, insofern beispielsweise Normen, die im Sprachgebrauch wirken, einen zentralen Gegenstand der Sprachwissenschaft und -didaktik markieren und Kanondiskussionen in der Literaturwissenschaft und -didaktik immer wieder neu geführt werden müssen. Gleichzeitig gestaltet sich die Gewinnung von Erkenntnissen dazu immer relativ, weil sie nur über einen fachwissenschaftlichen wie fachdidaktischen Theorien- und Methodenpluralismus bearbeitet werden können. Das Verhältnis zwischen fachwissenschaftlicher Relativität und fachdidaktischer Normentwicklungen bleibt dabei angespannt, insofern der Bezugspunkt der Normsetzung beider nicht identisch ist. Dies hat die Deutschdidaktik wiederum mit anderen Fachdidaktiken gemein, da Bildungs- und Lernprozesse im Mittelpunkt von Normentwicklung stehen, die sich wiederum zu konkreten bildungspolitischen Normsetzungen verhalten müssen und/oder diese mitbestimmen. So betrachtet besteht bei einer Normorientierung Richtung Bildungs- und Erziehungswissenschaften über generische Modellierungen wie Kompetenz, kognitive Aktivierung usw. stets die Gefahr, den fachwissenschaftlichen, fachdidaktischen und unterrichtspraktischen Normendiskurs zu vereinnahmen oder zu unterlaufen. Eine intensivere Reflexion über Normativität und Relativität in der Deutschdidaktik könnte dazu beitragen, zum einen spezifische Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Deutschdidaktik im Vergleich zu anderen Disziplinen herauszuarbeiten (vgl. Beitrag von Daniela Matz zu Begriffen) und zum anderen fachdidaktikenübergreifende Perspektiven produktiv werden zu lassen (vgl. Beitrag von Philipp Marzusch zur Deutsch-/Fremdsprachdidaktik). Dies erscheint nicht zuletzt deshalb wichtig, weil in der Fachlichkeit das Spezifikum aller Fachdidaktiken zu sehen ist und zugleich die besondere Leistung der Fachlichkeit innerhalb des Unterrichts gerade darin besteht „als systematische Barriere für Indoktrination“ (Tenorth 1995, 342) zu wirken. Die Beschreibung der Relativität fachdidaktischer Normen (Führer et. al. 2022, 17) kann also auch für fachspezifische Unterrichtsherausforderungen sensibilisieren, diese präzisieren und zu einer Qualitätsentwicklung beitragen (Beitrag Johannes Mayer mit Bezug auf Begabungsentwicklung in und für literarische Gespräche). Nicht zuletzt drückt sich Relativität und Normativität sowohl in Fachdidaktiken und -unterricht in Sprachhandlungen aus, die wesentlich zu epistemischer Relativität beitragen können (vgl. Beitrag von Helga Gese und Dominik Balg am Beispiel kontrafaktischen Argumentierens).
In dieser Weise vermag die Reflexion über Normativität und Relativität Querschnitts- und Fachaufgaben so zu konturieren, dass die Vielzahl nichtfachlicher Debatten sowie Bildungserwartungen, die an Deutschdidaktik und -unterricht herangetragen werden, nicht lediglich vereindeutigend aufgenommen werden.
Programm
Einführung: Carolin Führer (Universität Tübingen); Marzusch Philipp (Eberhard Karls Universität Tübingen); Dominik Balg (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz) |
Vortrag 1: Daniela Matz (Universität Tübingen); Zur Relativität und Normativität des Kreativitätsbegriffs in der Deutschdidaktik und ihren Bezugsdisziplinen |
Vortrag 2: Philipp Marzusch (Universität Tübingen) Zur Relativität von Literarizität im Deutsch- und Fremdsprachenunterricht im Kontext fachdidaktischer Normsetzungen |
Vortrag 3: Johannes Mayer (Universität Frankfurt a.M.) Normative Ansprüche und unterrichtliche Praktiken des Gelingens und Scheiterns literarischer Gespräche |
Vortrag 4: Helga Gese (Universität Tübingen); Dominik Balg (Universität Mainz) Zur Relativität fachunterrichtlicher Normen in Hinblick auf sprachliche Ressourcen: Modalisierende Sprachhandlungen im Philosophieunterricht |
Hier erhalten Sie die Abstracts zu den Vorträgen
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